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Weg von der Pralinenschachtel-Mentalität

Peter Feuchtwanger über Klavierrepertoire, Alexandertechnik und Fingersätze

Das Interview führte: Hans-Theodor Wohlfahrt,
eine gekürzte Version ist erschienen in: Neuen Musikzeitung, April 2000, S. 29.

Ein Gespräch mit Peter Feuchtwanger, dem universal gebildeten, feinsinnigen Pianisten, Klavierpädagogen, Komponisten, Belcantoforscher, Maler und Experten der indischen Musik, beleuchtet fast zwangsläufig einen weiten Rahmen an Erfahrungen und Erkenntnissen. Daraus seien hier einige wenige, für sein Denken und seine Arbeitsweise symptomatische Kriterien gefiltert. Es erscheint wichtig, vorauszuschicken, daß Peter Feuchtwanger, Schüler von u. a. Edwin Fischer und Walter Gieseking, sowie als Mensch und Musiker am entscheidensten von Clara Haskil inspiriert, mit der ihn von 1952 bis zu ihrem Tod 1960 eine enge Freundschaft verband, ursprünglich Autodidakt war. Im israelischen Exil fand der Junge geschickt Wege, für Wochen die Schule zu schwänzen, um bei einer ihm wohlgesonnenen alten Dame, die ein Klavier besaß, alles nachzuspielen, was er zu Hause auf Platten gehört hatte, allerdings um einen halben Ton zu hoch, da das Grammophon ein wenig zu schnell lief. Der Schwindel kam auf und als er endlich einem Klavierlehrer mit müheloser Selbstverständlichkeit Liszts Konzertetüde "La leggierezza" entsprechend dem Grammophongehörbild in fis-Moll und nicht in f-Moll vorspielte, war das Erstaunen groß. Mittlerweile hatte er sich intuitiv eine völlig natürliche Technik angeeignet, die bis heute nicht nur die Basis für seinen Unterricht, sondern auch für jene von ihm entwickelten Übungen bildet, mit denen er bei Pianisten aller Couleur Sehnenscheidenentzündungen und andere Verletzungen erfolgreich behebt.

"Viele angehende Pianisten haben wenig Ahnung von den richtigen Bewegungen. Natürlich brauchen wir Spannung zum Klavierspiel; doch gerade deswegen dürfen wir nicht verspannt sein. Man muß sich immer wieder darüber klar werden, ob eine Bewegung organisch mit dem Uhrzeiger oder gegen den Uhrzeiger verläuft. Um Verspannungen abzubauen, arbeite ich ähnlich wie Alexander. Die Alexander- und die Feldenkraismethoden sind für einen Pianisten äußerst wichtig.
Man muß herausfinden, welche Hilfsmöglichkeiten den jeweiligen Bedürfnissen entsprechen. Dann spielen die Leute heute alle zu laut; sie haben keine Ahnung, wie man ein schönes Fortissimo erzeugt. Dafür braucht man keine Kraft; das ist eine Sache der Geschwindigkeit, des Schleuderns, des Widerstands und des sofortigen Lösens. Doch in der Regel verkrampft sich der Student, der Nacken wird plötzlich verkürzt oder angespannt, der Mund verzerrt sich, die Ellenbogen verspannen sich und die Schultern werden angezogen. Das führt zur Beeinträchtigung der Wirbelsäule. Wer diese Dinge nicht behandeln kann oder doch wenigstens darauf aufmerksam macht, der sollte nicht unterrichten. Kommen solche Fälle hilfesuchend zu mir, müssen sie die richtige Einstellung mitbringen. Meine Übungen bezwecken, daß man all das vergißt, was man einmal konnte. Die Programmierung im Hirn wird vollkommen ausradiert und damit auch alle schlechten Gewohnheiten. Man fängt wieder neu an. Nach einiger Zeit erweist es sich, daß das Gute wiedergeboren und das Schlechte vergessen ist. Wir sind zu sehr vorprogrammiert und das müssen wir irgendwie löschen.
Meine Fingersätze suche ich mir nicht. Ich mache eine Bewegung, die instinktiv einen Fingersatz auslöst. Spiele ich z. B. eine Tonleiter nach oben: 2,3,4,1,2,3,4,5, dann gehe ich nicht mit dem vierten Finger auf das h zurück, sondern mit dem Daumen. Damit vertritt der Daumen den vierten Finger, weil sich der Daumen, wenn der vierte Finger wieder spielt, versteifen könnte. Was macht man mit einem gelangweilten Kind - man beschäftigt es. Es ist sehr wichtig, daß die Hand immer in Bewegung ist; die Bewegung ist sehr klein, aber durch einen Fingerwechsel in einer organischen Bewegung wird die Hand nie steif.
Die meisten sind Sklaven ihrer schlechten Gewohnheiten. Technik bedeutet ja nicht nur, mechanisch schnell zu spielen, sondern auch eine Tonbalance, Farben, Atem zu erzeugen. Dabei kommt der Klangvorstellung eine außerordentlich wichtige Rolle zu. Manchen ist sie angeboren, bei anderen verstaubt, verdeckt oder verschüttet und manche besitzen sie wirklich nicht. Doch mit viel Phantasie kann man sie fördern und anerziehen. Schließlich spielt ein Pianist so gut, wie er hört. Kürzlich auf einem Wettbewerb präsentierten sich die meisten Pianisten zwar sehr flüssig, ohne falsche Töne, schnell und sehr laut, doch keiner hörte sich selbst zu. Verfolgt man ihr Spiel, so schmerzen diese unästhetischen Verkrampfungen; die hübschen jungen Mädchen schneiden plötzlich häßliche Gesichter und baden sich in furchtbaren Bewegungen. Schon Couperin hat gesagt, wie man sich am Klavier verhalten soll; wir wissen es außerdem von Chopin und so vielen großen Pianisten. Selbst die Haskil blieb trotz ihrer Verkrümmung beim Spiel vollkommen ruhig. Eine der schönsten Erscheinungen war Youra Guller. Es blieb ein Erlebnis, wie diese alte Dame anläßlich ihres Comeback in den 60er Jahren am Klavier saß und mit der Würde einer Königin ohne unnötige Bewegungen ein herrliches Fortissimo spielte.
Besonders schlimm ist die enge Begrenzung des Studienrepertoires an den Hochschulen - und doch gibt es kein Instrument mit einem größeren Repertoire. Allein von Rossini existieren 104 veröffentlichte Klavierkompositionen, dann die Weber-Sonaten und wunderbare Literatur von Ferdinand Ries oder Hummel, ja selbst von Mendelssohn, von dem immer nur drei oder vier Stücke gespielt werden. Bei den Hochschulstudenten kommt es mir immer so vor, als präsentiere man ihnen eine Schachtel Pralinen. Daraus wählen sie sich dann die Waldstein, die B-Dur Partita, die a-Moll-Sonate von Mozart, die letzte Haydn-Sonate und noch eine Chopin-Ballade oder ein Scherzo.
Doch wie will man Mozart verstehen, ohne die Sonaten von Christian Bach studiert zu haben; das gleiche gilt für Haydn und Philipp Emanuel Bach. Mit vielen Studenten erarbeite ich alle Haydn-Sonaten; nur so lernt man einen Komponisten kennen - und dazu gehört selbstverständlich auch sein übriges Œuvre. Besonders liegen mir innerhalb der Literatur von Bach bis Mozart die Ornamentik und eigenständige Veränderungen bei Wiederholungen am Herzen. Ein Interpret ist die Fortsetzung einer Komposition. Das Notenbild beinhaltet ja lediglich eine manchmal mehr, manchmal weniger ausgeschriebene stenographische Vorlage. Ich versuche, in meinen Studenten Neugierde zu wecken; man kann ihnen nur den Schlüssel geben, man kann ihnen sogar die Türe öffnen, aber reingehen müssen sie selber. Man kann nicht alles vorkauen. Ein Lehrer ist dazu da, zu inspirieren und Anregungen zu geben. Dabei ist ein selbstloses Einfühlungsvermögen ebenso wichtig wie psychologisches Fingerspitzengefühl, um herauszufinden, was man dem einen oder dem anderen Studenten beibringen kann. Was jemand nicht bereits im Ansatz besitzt, kann man ihm nicht geben.
Ebenso liegt mir am Herzen, den Studenten viel Information zu bieten, doch nicht trocken, sondern lebendig. Ich möchte in ihnen das Interesse wecken, nicht zu lange an einem Stück zu arbeiten und immer wieder an Neues zu gehen, um das Problem von vielen Seiten zu sehen. Spielt man nur eine Etüde von Chopin, so ist das nicht so leicht, spielt man aber viele und dazu noch von Liszt, Debussy und Czerny, dann lösen sich die Schwierigkeiten, weil man am Problem und nicht am Stück arbeitet."