Mozart für die Götter



Mozart für die Götter

Die Pianistin Clara Haskil: Eine Erinnerung von Peter Feuchtwanger

Zuerst erschienen in der FAZ Mr. 6 vom 7. Januar 1995

Der in London lebende Pianist und Komponist Peter Feuchtwanger wurde in München geboren und rettete sich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg nach Palästina, wo er den ersten Klavierunterricht bei einer Schülerin Emil von Sauers erhielt. Ein Stipendium ermöglichte ihm Studien bei Edwin Fischer in Luzern und Walter Gieseking in Saarbrücken. Seine Pianistenlaufbahn schränkte er schon in jungen Jahren zugunsten einer internationalen Tätigkeit als Gastdozent und Jurymitglied (so bisher viermal beim Clara-Haskil-Wettbewerb in Vevey-Montreux) ein. Clara Haskil hatte auf ihn größten künstlerischen Einfluß. Immer wenn sie in den fünfziger Jahren in England gastierte, übte sie bei Feuchtwanger, der ihr seinerseits vorspielte und von ihr beurteilt wurde. In dem folgenden Beitrag schildert Feuchtwanger seine erste Begegnung mit Clara Haskils Spiel.

Ihre Karriere, die Clara Haskil als Wunderkind begonnen hatte, kam erst in Fahrt, als sie schon über fünfzig Jahre alt war. Rasch wurde sie in den letzten fünfzehn Jahren ihres Lebens eine der international gefragtesten Pianistinnen. Die skrupulöse "Prinzessin der Musik", wie der Freund Dinu Lipatti sie nannte, aber schrieb noch als gefeierte Künstlerin nach vielen Konzerten "gräßlich" oder "sehr schlecht gespielt!" in ihr Tagebuch. Posthum jedoch wurde sie zum Idol der Pianistenwelt. F. A. Z.

Den Namen Clara Haskil hörte ich zum ersten Mal während eines Besuchs in der Schweiz, im Künstlerzimmer nach einem Klavierabend Dinu Lipattis. Nachdem ich Lipatti zu seinem Mozart gratuliert hatte, hörte ich den Pianisten beiläufig ausrufen: "In zwei Wochen mußt du Clara Mozart spielen hören. Dann wirst du merken, wie weit weg wir alle von der Wahrheit sind." Ich war damals sehr jung, aber der Name Clara blieb in meiner Erinnerung eingegraben. Wer war diese mysteriöse Clara?
Ungefähr fünf Jahre später, bei einem weiteren Besuch in der Schweiz, konnte ich das Rätsel endlich lösen. Es geschah am 7. September 1952, bei einem Konzert in der Züricher Tonhalle, wo Clara Haskil die Solistin in Mozarts Es-Dur-Konzert KV 271 war. Dieses Konzert beginnt mit einer Frage des Orchesters, die sofort im zweiten Takt vom Solisten beantwortet wird. Die Frage wird wiederholt, und der Solist betont wiederum die Antwort. Clara Haskils "Antwort" zwang mich zum Zuhören und weckte meine Neugier. Trotzdem traf mich das, was nun folgte, völlig unvorbereitet. Als nach dem folgenden Tutti plötzlich der Triller auf dem Ton B Gestalt gewann, erfuhr ich etwas, das vergleichbar ist mit der Schilderung von Debussys erster Mélisande Mary Garden, als sie Nellie Melbas hohes C am Ende des ersten Akts von "La Bohème" hörte: "Wie die Melba dieses hohe C sang war die seltsamste und unheimlichste Erfahrung meines Lebens. Der Ton flutete über das Auditorium in Covent Garden, er verließ Melbas Kehle, er verließ Melbas Körper, er verließ alles, erstrahlte wie ein Stern, streifte uns auf unserem Sitz und verschwand ins Unendliche. Ich habe nie in meinem Leben etwas Ähnliches gehört. Mein Gott, wie herrlich war das! Seitdem warte ich auf diese Note, wenn ich ersten ‚Bohème´-Akt höre."
Seitdem habe ich vergeblich auf eine Wiederholung einer solchen Erfahrung gewartet. Obwohl Clara Haskil dieses Konzert aufnahm, kann keine Aufzeichnung ihrem Spiel gerecht werden. Gewiß muß man dankbar sein, daß es solche akustischen Dokumente überhaupt gibt; aber sie reproduzieren etwas Unaussprechliches, Unwiederbringliches. Clara Haskils Konzerte waren oft Wunder, und Wunder sind unwiederholbar.
Beim ausverkauften Konzert in der Züricher Tonhalle mußte ich auf dem billigsten Platz im Anbau hinter der großen Halle sitzen - hinter einer Säule, wo man gut hören, die Künstlerin aber nicht sehen konnte. Als nach dem Konzert der stürmische Beifall begann, spähte ich hinter der Säule hervor, um die Pianistin zu sehen, die gerade dieses Wunder vollführt hatte: Clara Haskil, die nach einem Londoner Kritiker "Mozart für die Götter" spielte, ergriff mit ungläubigem Gesichtsausdruck die Hand des Dirigenten, als habe sie eine Rückversicherung nötig. In den folgenden Jahren hörte ich sie glücklicherweise oft, öffentlich wie privat. Für diese Erfahrung werde ich immer dankbar sein.
In ihren späteren Lebensjahren wurde Clara Haskil als überragende Mozart-Pianistin ihrer Generation gefeiert; aber in jüngeren Tagen zeichnete sie sich in Werken wie Balakirews "Islamey", "Das große Tor von Kiew" aus Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung", "Feux Follets" aus Liszts "Etudes d´exécution transcendante" und dem B-Dur-Konzert von Brahms aus, das sie in nur zwei Tagen lernte. Ihr war ein Leben voll Prüfung und Drangsal auferlegt. In ihren Zwanzigern brach eine Skoliose (Rückgratverkrümmung) aus. Kurz nach der Flucht aus dem von den Nazis besetzten Paris, im Juni 1942, unterzog sie sich in Marseille einer schweren Operation: Ein Tumor drückte auf den Sehnerv. Aber solche Rückschläge überwand sie mit unbezwinglichem Geist.
Die in Bukarest geborene Rumänin jüdischer Herkunft zeigt schon als Dreijährige kostbares musikalisches Talent: Sie konnte auf dem Klavier jede Melodie wiedergeben, die ihre ältere Schwester spielte. Problemlos konnte das Kind das Stück in jede Tonart transponieren. Sie war noch nicht fünf, als ein Professor der Bukarester Musikakademie in ihrem Elternhaus eine Mozart-Sonate vortrug. Nachdem er sein Spiel beendet hatte, setzte sich die kleine Clara ans Klavier und wiederholte die Sonate nicht nur vollkommen notengetreu, sondern versetzte das Stück auch in eine höhere Tonart. Zu dieser Zeit hatte sie noch keinerlei musikalische Unterweisung.
Nach dem Tod ihres Vaters nahm der Onkel Avram Moscuna, der fortan für ihre Erziehung verantwortlich war, sie nach Wien mit. Der gefeierte Klavierpädagoge Anton Door hörte sie. In einem Artikel in der Neuen Freien Presse (1902) beschrieb er das Wunderkind: Nachdem sie ein Stück ein einziges Mal gehört hatte, wiederholte sie es und transponierte es in jede ihr vorgeschlagene Tonart. Vom-Blatt-Lesen erwies sich als ebenso einfach für sie, und einen Satz aus einer Beethoven-Sonate spielte sie fehlerlos prima vista.
Ihre Klavierstudien begann sie 1903 bei Professor Richard Robert, der auch Rudolf Serkin und George Szell ausbildete. Er nahm sich der jungen Künstlerin besonders sorgfältig an. Nicht lange nach dem Beginn ihrer Ausbildung verblüffte sie das musikalische Wien mit einer Aufführung von Mozarts Klavierkonzert A-Dur KV 488. Zwei Jahre danach, mit zehn, gab sie ihren ersten Solo-Klavierabend. 1905 wechselte sie zum Pariser Conservatoire, dessen Direktor Gabriel Fauré von ihren einzigartigen musikalischen Gaben tief beeindruckt war. 1907 wurde die Zwölfjährige für Alfred Cortots Meisterklasse zugelassen, die sie fünfzehnjährig mit dem Premier Prix abschloß.
Ausgiebige Konzerttourneen folgten in Frankreich, der Schweiz und in Italien. Auch nach Bukarest kehrte sie zurück. Busoni, damals auf seinem künstlerischen Höhepunkt, hörte die Sechzehnjährige in der Schweiz. Gepackt von Clara Haskils Wiedergabe seiner Transkription von Bachs d-Moll-Chaconne, lud Busoni die junge Künstlerin spontan zum Studium bei ihm in Berlin ein. Ihre Mutter jedoch verhinderte das Angebot unter dem Vorwand, die Tochter sei noch zu jung. Statt dessen wurde eine Serie von Konzertreisen arrangiert, bis 1913 der erste von ernsten gesundheitlichen Rückschlägen die erfolgreiche Karriere zeitweise blockierte: Vier Jahre mußte Clara Haskil in einem Gipskorsett aushalten, um das Voranschreiten der Skoliose möglicherweise aufzuhalten.
Neben ihrer einzigartigen Klavierbegabung trieb sie eine große Neigung für die Violine bis zur Professionalität voran. Diese Liebe zum Streichinstrument reichte bis in die frühe Kindheit zurück, als sie zum ersten Mal Joseph Joachim hörte. Die Ausdruckskraft seines Spiels hatte das Kind bis zu Tränen überwältigt. Der Schweizer Geiger Peter Rybar erinnert sich an ein Ereignis in Winterthur im Jahr 1944. Er hatte nicht bemerkt, daß es Clara Haskil war, die in einer Probenpause die Geige ergriffen hatte und den ersten Satz von Mendelssohns Violinkonzert spielte. Rybar traute kaum seinen Ohren. Er beschrieb ihr Spiel als perfekt, mit untrüglicher Phrasierung und Intonation und, vor allem, mit überaus erlesenem Ton. Die Tatsache, daß sie nur drei Jahre lang Violinstunden hatte und nur an den Unterrichtstagen übte, deutet auf ihr erstaunliches Talent hin. Während ihrer Karriere war sie nicht von ungefähr Partnerin vieler bedeutender Streicher, darunter Ysaye, Enescu, Casals und Grumiaux.
In England trat Clara Haskil zum ersten Mal 1926 auf, mit Sir Hamilton Hartys berühmtem Hallé-Orchester. In der Wigmore Hall debütierte sie 1946. Im gleichen Jahr hatte sie eine Aufnahmeserie bei der BBC. Während der fünfziger Jahre spielte sie oft in England. In dieser Zeit war sie endlich international gefragt; sie trat mit vielen führenden Dirigenten und bei den wichtigsten Festivals auf. Die Konzertserien in Boston, mit Charles Munchs Boston Symphony Orchestra, und in der New Yorker Carnegie Hall erregten Aufsehen und wurden im Time Magazine besprochen. 1957 ernannte sie der französische Staat zum Ritter der Ehrenlegion.
In ihrem letzten Lebensjahrzehnt rätselte sie oft: "Warum will mich plötzlich jeder hören? Ich spiele doch überhaupt nicht anders als früher." Strengte man sein Vorstellungsvermögen an, so konnte man den Unterton heraushören: " ... tatsächlich spiele ich jetzt nicht so gut." Das war eine Ausgeburt ihrer extremen Bescheidenheit. Trotz Leid und Rückschlägen war es ein Wunder, daß diese zerbrechliche Frau einen solchen Gipfel der Vollkommenheit erreichte.
Am 6. Dezember 1960 reiste sie mit ihrer Schwester Lili mit dem Zug nach Brüssel, zum Beginn eine Konzerttournee mit dem belgischen Geiger Arthur Grumiaux. Kurz nach ihrer Ankunft im Bahnhof stolperte sie, fiel auf die Treppe und verletzte ihren Kopf auf dem Beton. Eilig wurde sie in die Clinique Longchamps transportiert. Dort starb sie, im Beisein ihrer Schwestern Lili und Jeanne, in den frühen Morgenstunden des 7. Dezember, nur einen Monat vor ihrem sechsundsechzigsten Geburtstag.



Ihre Karriere, die Clara Haskil als Wunderkind begonnen hatte, kam erst in Fahrt, als sie schon über fünfzig Jahre alt war. Rasch wurde sie in den letzten fünfzehn Jahren ihres Lebens zu einer der international gefragtesten Pianistinnen. Die skrupulöse "Prinzessin der Musik", wie der Freund Dinu Lipatti sie nannte, aber schreibt noch als gefeierte Künstlerin nach vielen Konzerten "gräßlich" oder "sehr schlecht gespielt!" in ihr Tagebuch. Posthum jedoch wurde sie zum Idol der Pianistenwelt. Unser Foto zeigt die Fünfzehnjährige nach dem Gewinn des ersten Preises am Pariser Konservatorium.
(Foto: Archiv)