Klavierübungen

Klaviertechnische Übungen zur physiologischen und psychologischen Heilung und zum Erlernen eines funktionell-natürlichen Verhaltens am Klavier

© 1996 Peter Feuchtwanger, London

Als ich vor 10 Jahren, 1986, meine Übungen bei der EPTA - Konferenz in Berlin vorführte, begann ich meinen Vortrag mit einem Zitat von Caspar David Friedrich. Auch diesmal möchte ich mit einem Zitat dieses großen romantischen Malers beginnen:

"Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch was er in sich sieht. Sieht er also nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht."

Wenn wir dieses auf die Musik übertragen, würden wir sagen, wenn ein Musiker das innere Hören nicht ausbildet und nur das spielt, was er in den Noten vor sich sieht, soll er das Musizieren lieber aufgeben. Meine Übungen sollen nicht nur die Technik des Klavierspielens fördern, sondern in gleichem Maße das innere Hören verfeinern.

In meiner langen Laufbahn als Klavierpädagoge begegne ich mehr und mehr Pianisten mit Sehnenscheidenentzündungen, Überbeinen und anderen Beschwerden, die aufgrund dieser Schäden nicht zur musikalischen Gestaltung gelangen können und dadurch das innere Hören verlernen. Wenn wir Pianisten beobachten, müssen wir feststellen, daß die meisten von ihnen unfunktionelle Bewegungen am Klavier machen, die eventuell zu großen Schäden führen können. Durch meine Übungen ließe sich das vermeiden. Auch unter den bekanntesten Pianisten gibt es viele, die laufend in ärztlicher Behandlung sind, einige haben sogar den Gebrauch der rechten Hand völlig verloren. Natürlich gibt es auch Pianisten, vielleicht von robusterer Konstitution, die das Glück haben, trotz "falscher" Bewegungen keine Schäden davonzutragen Was ich mit meinen Übungen bezwecken will ist, daß jeder Pianist, trotz schlechter Angewohnheiten, wieder zum natürlichen Klavierspiel zurückfindet, oder daß Kinder von Anfang an so geschult werden, daß sie gar nicht erst schlechte Angewohnheiten annehmen.

Da ich als Kind wegen meiner unbefriedigenden Leistungen in der Schule keinen Klavierunterricht haben durfte und wir nach der Emigration auch kein Klavier zu Hause hatten, schwänzte ich oft die Schule, ging statt dessen zu einer Nachbarin (einer alten Dame aus München) und spielte all das auf ihrem Klavier, was ich auf meinen und ihren Schallplatten gehört hatte. So spielte ich sämtliche Chopin-Etüden (nach Aufnahmen von Cortot und Backhaus), fast alle Beethoven-Sonaten nach Platten von Schnabel und viele andere Klavierstücke nach. Da unser Plattenspieler und auch der der alten Nachbarin zu schnell lief und ich ein absolutes Gehör hatte, spielte ich alle diese Werke einen Halbton zu hoch. Als ich die Werke darauf in Konzerten in der richtigen Tonart hörte, transponierte ich sie sofort einen halben Ton tiefer ohne jegliche Schwierigkeiten. Dadurch lernte ich auf die natürlichste Art zu transponieren, worauf ich auch bei meinen Schülern großen Wert lege. Ich muß noch hinzufügen, daß ich keine Noten lesen konnte.

Als meine Eltern schließlich doch einwilligten, mir Klavierunterricht geben zu lassen, war ich dreizehneinhalb. Meine erste Begegnung mit dem Klavierlehrer, seinerzeit der bekanntesten in der Stadt, verlief folgendermaßen: "Hast Du schon einmal Unterricht gehabt?" "Nein", erwiderte ich. "Kannst Du schon etwas spielen?" "Ja", sagte ich. "Nun, dann zeig mal, was Du kannst." Daraufhin spielte ich "La Leggierezza" von Liszt (samt verändertem Schluß, wie ihn Simon Barere auf meiner Platte spielte). Ich spielte es anscheinend so brillant, daß der Lehrer seine Frau aus dem Nebenzimmer holte und sagte: "Das mußt du dir anhören, dieser Junge hat noch nie Unterricht gehabt und spielt besser als die fortgeschrittensten meiner Schüler." Ich mußte das Stück für seine Frau noch einmal spielen. "Kannst du auch Noten lesen?" war seine nächste Frage. "Ja", log ich, da ich mich schämte, daß ich nicht eine einzige Note vom Blatt lesen konnte. Er öffnete einen Beethoven-Band und da es ein Adagio war, dachte ich, es könnte der erste Satz der Mondschein-Sonate sein, und spielte ihn, wie ich ihn von Schnabel kannte. Danach schlug er einen anderen Band auf, wieder ein langsamer Satz und dachte, es wäre vielleicht der 2. Satz aus der Pathétique. Als er mir die dritte Sonate aufschlug, wieder mit einer relativ langsamen Tempobezeichnung, spielte ich den 2. Satz der Appassionata. Als ich fertig war, sagte er: "Peter, warum gibst du es nicht zu, daß du keine Noten lesen kannst? Erstens hast du jedes Mal die falsche Sonate gespielt, zweitens spieltest du sie alle drei einen halben Ton zu hoch und im übrigen ist "La Leggierezza" in f-Moll und nicht in fis-Moll."

Er spielte mir den Anfang (nicht besonders gut!) in der richtigen Tonart vor. Tief beschämt gab ich zu, daß ich nie Noten lesen gelernt hatte. Daraufhin bat er mich, "La Leggierezza" noch einmal zu spielen. Also spielte ich die Etüde zum dritten Mal und diesmal einen halben Ton tiefer und - wie ich es gewohnt war - mit ganz flacher Hand. Daraufhin sagte er: "Du mußt mit runden Fingern spielen, als wären sie kleine Hämmer. Stell dir vor, du hast einen Apfel in der Hand." (Wie oft habe ich diese Bemerkung später im Leben auch von anderen Pädagogen gehört!) Da ich daraufhin lange nicht mehr so gut spielte, kehrte ich auch nie zu diesem Lehrer zurück. Kurz danach erhielt ich Unterricht von einer ehemaligen Emil von Sauer-Schülerin und ging auch zu einer alten Dame, die noch Clara Schumann vorgespielt hatte. Beide erkannten sofort, daß ich ganz natürlich spielte und wollten daher meine Technik nicht ändern.

Was ich heute unterrichte, basiert auf diesen frühen Erfahrungen und auch auf meinen Beobachtungen an anderen Pianisten, die ganz natürlich spielten. Das wohl beste Beispiel ist Clara Haskil, die trotz ihrer Rückgratverkrümmung das natürlichste Klavierspiel von allen Pianisten hatte. Sie erzählte mir später, daß sie von frühester Kindheit an Klavier gespielt hat und daß ihr keiner je etwas Technisches beibringen mußte.

In späteren Jahren wurde ich oft gefragt, ob ich die Alexander-Technik oder Feldenkrais-Methode gelernt hätte, oder ob ich mich gar mit der japanischen Kriegskunst befaßt hätte. All das waren mir neue Begriffe, und erst viel später lernte ich sie kennen. Dadurch wurde mir bestätigt, daß ich mich vollkommen richtig am Klavier verhalte, da wir alle danach streben, das Maximum an Leistung mit einem Minimum an Energieaufwand zu erreichen. Meine Übungen helfen, dieses Ziel zu erreichen. Bei der Vorführung erscheinen sie so leicht, als ob jeder sie sofort ausführen könnte. Doch zu aller Verwunderung ist das noch niemandem gelungen. Wenn man sie einmal beherrscht, kann man sich überhaupt nicht vorstellen, daß man sie einmal nicht ausführen konnte.

Durch diese Übungen lernen wir nicht auf dem Klavier zu spielen, sondern daß die Taste vielmehr eine Verlängerung des Fingers ist, daß der Finger die Taste nicht anschlägt, sondern sie manipuliert; daß wir die Finger nicht heben müssen, sondern nur loslassen und schon kommt der Finger mit der Taste von selbst hoch; daß die Finger oder die Hand wie ein flacher Stein, den man auf das Wasser wirft, von den Tasten springen (ricochet); daß die Hand immer in eine neutrale Position zurückzuführen ist, und daß der Daumen nie verspannt ist; daß das Handgelenk immer federnd bleibt; daß Arme und Ellbogen, nachdem wir den Kontakt mit der Taste gefunden haben, passiv bleiben; daß die Bewegung von den Fingerspitzen aus geht; daß der Daumen, wenn die anderen Finger spielen, immer locker bleibt; und daß die rechte Hand elliptische Bewegungen meistens gegen den Uhrzeiger und die linke elliptische Bewegungen meistens mit dem Uhrzeiger ausführt. Auch muß alles aus einem Impuls ohne Vorbereitung geschehen. Bei einer Oktave, zum Beispiel, öffnet sich die Hand erst in der letzten Sekunde und ist nicht schon vorher fixiert. (Wir sperren auch nicht den Mund auf, bevor wir Guten Tag sagen). Vor allem müssen wir danach trachten, daß wir den Arm nicht halten. Wenn wir von einer Position in die andere gelangen wollen, ist das wie mit einem Tänzer, der nach dem Sprung wieder federnd zurück zur Erde muß (nicht einmal Nijinsky konnte in der Luft bleiben), aber nicht mit den Fußsohlen sondern mit den Zehen zuerst ankommt. So muß auch der Pianist mit den Fingerspitzen zuerst ankommen, ohne das Handgelenk im geringsten zu verändern (man denke dabei an einen Fallschirm).

Die Übungen dienen hauptsächlich dazu unsere schlechten Gewohnheiten loszuwerden, die einprogrammierten Daten im Computer auszulöschen. Demzufolge entsteht ein vollkommen neues und freieres Fingersatzsystem, und auch wird die meistens verlorengegangene und so durchaus wichtige Elastizität der Hand wiederhergestellt. Wie wir von Alexander oder Feldenkrais lernen können, fühlen wir uns mit unseren alten, schlechten Gewohnheiten manchmal sehr wohl und haben überhaupt keine Vorstellung, was funktionell und unfunktionell in unseren Gebärden im täglichen Leben oder am Klavier ist. Wir geben doch keinem Menschen die Hand mit gekrümmten Fingern oder gar mit einem Apfel in der Hand, und es gibt nur eine natürliche Art, einen Gegenstand wie zum Beispiel ein Glas Wasser zu ergreifen. Es gibt viele Arten Klavier zu spielen, aber es gibt nur eine funktionelle, genauso wie es nur eine ideale Sitzart gibt, je nach Körperbau des Pianisten, aber vor allem muß der Nacken immer frei bleiben. Es gibt viel Literatur, die sich mit diesen Problemen befaßt. Ich rate jedem, "Zen in der Kunst des Bogenschießens" von Eugen Herrigel und "Das Pianistische Talent" von Harold Taylor, letzteres erschienen beim WUV-Universitätsverlag, zu lesen. Auch die Werke von Alexander und Feldenkrais sind in diesem Zusammenhang von größter Bedeutung.

Meine Übungen dienen sowohl "gesunden" Pianisten als auch bereits irgendwie geschädigten, die durch sie vollkommen geheilt werden. Erfolgreichen Konzertpianisten sind sie genauso nützlich wie Anfängern. Das Wichtigste bei diesen, wie bei allen Übungen, ist, wie ich schon vorher erwähnt habe, das Hören, da ein Pianist nicht besser spielen kann, als er hört. Also schulen diese Übungen gleichzeitig die Bewegungen sowie auch das Gehör. Oft werde ich gefragt, wie lange ein Pianist die Übungen ausführen muß, bevor er sie beherrscht, und dann zitiere ich gern, wie auch schon vor
und dann zitiere ich gern, wie auch schon vor zehn Jahren, folgende Metapher:

Ein Knabe reiste durch Japan zu der Schule eines berühmten Meisters der Kriegskunst. As er im dojo ankam, wurde ihm eine Audienz vom sensei gewährt. „Was wünschen sie von mir?“ fragte der Meister. „Ich möchte Ihr Schüler sein und der beste karateka des Landes werden“, antwortete der Knabe. „Wie lange muß ich lernen?“ „Mindestens zehn Jahre“, antwortete der Meister. „Zehn Jahre ist eine lange Zeit“, sagte der Knabe. „Was wäre, wenn ich doppelt so fleißig lerne wie all Ihre anderen Schüler?“ „Zwanzig Jahre“, antwortete der Meister. „Zwanzig Jahre! Und wenn ich mich Tag und Nacht mit all meinen Kräften bemühen würde?“ „Dreißig Jahre“, lautete die Antwort des Meisters. „Woher kommt es, daß jedesmal wenn ich sage, daß ich mich sehr bemühe, sie mir sagen, ich werde mehr Zeit brauchen?“ frage der Knabe. „Die Antwort ist klar. Wenn ein Auge aufs Ziel schaut, dann bleibt nur noch ein Auge übrig, den Weg zu finden.“

zuerst veröffentlicht unter dem Titel "Technische Übungen als Vorbereitung zur musikalischen Gestaltung" in: EPTA Dokumentation 1996, S. 18f.

Seit 2003 liegen die "Klavierübungen" als Buch mit einer DVD vor. [mehr dazu]