Von der Intuition zur Reflektion

Von der Intuition zur Reflexion

PETER FEUCHTWANGER, Vizepräsident der Massenet Gesellschaft, im Gespräch mit NIKOLAUS LAHUSEN zuerst erschienen in: Üben ´ Musizieren, 5. Oktober 1984.

NL: Herr Feuchtwanger, Sie sind einer der wenigen Pädagogen, die sehr früh ihre pianistische Laufbahn zugunsten der pädagogischen aufgegeben haben. Welchen Stellenwert nimmt heute das Unterrichten in Ihrem Leben ein, und welche Rolle spielen darin die Schüler?
PF: Es ist der Schwerpunkt und das Hauptziel meines Lebens, daher verbringe ich den größten Teil meiner Zeit mit Unterrichten. Meine Schüler sind meine Familie!
NL: In Ihren vielen Jahren des intensiven Unterrichtens haben Sie eine Lehrpraxis entwickelt, die nicht gerade als gewöhnlich oder konventionell zu bezeichnen ist - unter manchen Klavierpädagogen gelten Sie als "enfant terrible". Um diese Entwicklung näher zu beleuchten, möchte ich Ihnen eine rein praktische Frage stellen. Sie unterrichten privat; warum nehmen Sie keine Stelle an einer Hochschule, einem Konservatorium oder einer Akademie an?
PF: Aus verschiedenen Gründen: Erstens finde ich, daß ich in der von einem Lehrinstitut zugestandenen einen Unterrichtsstunde zu wenig mit meinem Studenten ausrichten kann, manchmal brauche ich zwei, drei oder gar vier Stunden, um einen Schüler sinnvoll zu unterrichten, und dies kann ich eben nur privat. Der zweite Grund sind die Prüfungen, die einen Schüler zwingen, nach einer bestimmten Studienzeit eine Prüfung abzulegen, die möglicherweise den Arbeitsrhythmus unterbricht und den Schüler so unter Zeitdruck setzt, daß er in alte Fehler im Spielmechanismus zurückverfällt, die er sich vorher mit viel Geduld und harter Arbeit abgewöhnt hatte. Um es metaphorisch auszudrücken: Während der Schüler mit einem Auge immer aufs Ziel schaut, bleibt ihm nur ein Auge, um den Weg zu finden. Der dritte Grund ist das Gebundensein an einen bestimmten Ort. Meine häufigen Reisen ins Ausland, wo ich Meisterklassen leite, würden den regelmäßigen Unterricht an der Hochschule erschweren. Falls aber eines Tages eine Professur an einem Lehrinstitut frei wird, an dem Kollegen unterrichten, die ich schätze, und die auch meine Arbeit verstehen, und an dem mir terminliche Freiheiten zugestanden werden, könnte es durchaus sein, daß ich an einem Institut arbeiten würde.
NL: Sie selber haben einen recht außergewöhnlichen Werdegang, da Sie - soweit ich informiert bin - bis zu Ihrem dreizehnten Lebensjahr Autodidakt waren.
PF: Um genau zu sein, hatte ich erst mit dreizehneinhalb Jahren den ersten Klavierunterricht. Zuvor hatte ich alles von Schallplatten gelernt, die zum Teil mir und zum Teil einer Bekannten meiner Eltern gehörten. Ich schwänzte als Kind mit Vorliebe die Schule, um dann in aller Ruhe bei der Bekannten, einer alten Dame, die mein Talent erkannt hatte und zu meiner Vertrauten geworden war, Schallplatten zu hören. Ich konnte alles Gehörte sofort aus dem Gedächtnis nachspielen, da aber der Plattenspieler meiner Bekannten wie auch mein eigener zu schnell liefen und ich ein absolutes Gehör hatte, spielte ich jedes Stück einen halben Ton zu hoch. Also spielte ich sämtliche Chopin-Etüden - auf den Platten von Cortot und Backhaus gespielt - und fast sämtliche Beethoven-Sonaten, von Schnabel gespielt, in der falschen Tonart. Als ich diese Werke dann nach und nach auch in Konzerten hörte und der Pianist sie in der richtigen Tonart spielte, wunderte ich mich sehr, spielte sie aber, als ich das nächste Mal am Klavier saß, in der richtigen Tonart nach. Dadurch lernte ich automatisch zu transportieren. Das Wesentliche aber war, daß ich - obwohl ich durch so verschiedene Persönlichkeiten wie Backhaus, Cortot, Ignaz Friedman oder Schnabel u. a., die ich auf den Schallplatten gehört hatte, klangliche und interpretatorische Vorbilder bekommen hatte - doch meinen eigenen intuitiven musikalischen Ideen nachging.
Im nachhinein ist mir bewußt geworden, daß es von entscheidender Bedeutung gewesen ist, als Autodidakt begonnen zu haben. Ich spielte ohne große Überlegungen oder Anweisungen eines Lehrers, ganz natürlich und spontan ohne jegliche Verkrampfung oder Verspannung. Dieses unkomplizierte und natürliche Spiel war der Schlüssel zu meiner späteren pädagogischen Arbeit.
NL: Welche konkreten Erkenntnisse haben Sie aus Ihrem autodidaktischen Studium für Ihre Beziehung zum Klavier und zur Musik ganz allgemein gewonnen?
PF: Wie gesagt, hatte ich durch Schallplatten das gute Beispiel vieler großer Musiker, und ich meine jetzt nicht nur Pianisten, sondern auch Geiger wie Hubermann, Kreisler, Vasa Prihoda und Sarasate, Cellisten wie Casals und Feuermann und Flötisten wie Moïsé, aber vor allem waren es die großen Sänger des italienischen Belcanto, wie Battistini, Bonci, de Luca, Galli-Curci, Alma Gluck, Melba, Patti und Tetrazzini und viele andere, von denen mein Vater eine große Sammlung hatte, die bis heute einen ausschlaggebenden Einfluß auf mein musikalisches Denken haben. Um noch einmal auf das Thema Technik zu kommen: Ich hatte mir also eine ganz selbstverständliche Technik "erspielt", die aber auch einige unkonventionelle Eigenarten hatte. Da mich niemand darauf aufmerksam gemacht hatte, daß man den Daumen untersetzen soll, spielte ich häufig eine Tonleiter über zwei Oktaven mit dem Fingersatz 1-2-3-4-5-1-2-3-4-5 usw. Da ich den 4. Finger nach dem 5. unbequem fand, ersetzte ich ihn durch den Daumen, also spielte ich die Tonleiter zurück 5-1-3-2-1 oder ich begann mit Vorliebe eine Phrase oder Tonleiter mit dem 2. Finger (auch in C-Dur), wie zum Beispiel 2-3-4-1-2-3-4-5 und zurück 5-1-3-2-1-4-3-2. Der Daumen war für mich wie ein Joker in einem Kartenspiel, der jeden beliebigen Finger vertreten konnte. Er diente mir als Achse, und weil ich ihn so viel benutzte, war er auch nie verkrampft, was bei vielen Pianisten der Fall ist. Diese unbewußt erlernten Erkenntnisse verwende ich besonders deshalb im Unterricht, um zu verhindern, daß die Schüler mit festgefahrenen Schablonen arbeiten.
NL: Das bedeutet, daß Sie einen großen Teil Ihrer Methode auf intuitive Erkenntnisse Ihrer Kindheit aufbauen ?
PF: Ja! Das Wichtigste ist, zu erkennen, oder besser gesagt zu akzeptieren, daß wir uns zuerst auf die Intuition verlassen sollten und erst später die Reflexion einschalten, um das intuitiv Ausgeführte zu überprüfen. Diese beiden Ebenen bilden jedoch keine Gegensätze, sondern ergänzen sich. Im Grunde soll das Wollen, Handeln und Denken gleichzeitig geschehen. Beim Einstudieren eines neuen Werkes sollte man es erst so vollkommen wie möglich vom Blatt spielen mit allen Nuancen, Pedal etc., um ein Gesamtbild des Werkes zu erhalten. Es muß alles erst durch das Gehör aufgenommen werden. Erst dann sollte man sich mit einzelnen Teilen befassen und überlegen, ob man intuitiv richtig gehandelt hat. Nachdem man das Werk einmal im Ganzen gehört hat, kann man es durchlesen, ohne es zu spielen, um das Verständnis durch die Vorstellungskraft zu erweitern.
NL: In späteren Jahren hatten Sie bei einigen großen Künstlern Unterricht. Welcher davon hat sie am meisten geprägt?
PF: Clara Haskil! Obwohl ich nicht behaupten kann, daß ich ihr Schüler gewesen wäre - sie hat nie unterrichtet, - aber als ich ihr ein paarmal vorspielte, korrigierte sie einige Details, die von solch entscheidender Wirkung waren, daß sie nicht nur die vorgespielten Stücke änderten, sondern mein ganzes musikalisches Denken in andere Bahnen lenkte. Clara Haskils Spiel war das vollendete Beispiel einer Kunst der Phrasierung, die das, was zusammengehört, organisch bindet und von dem, was nicht dazu gehört, trennt. Darüber hinaus machte sie die zwischen den Noten obwaltende Beziehung klar, desgleichen die Unterschiede und Abstufungen in der Aktivität und Passivität, in der Spannung und Entspannung. Man könnte es vergleichen mit der Ausgewogenheit einer Geste, der Interpunktion der Sprache.
PF: Die andere große Persönlichkeit, die mich musikalisch und menschlich beeinflußt hat, war die früh verstorbene englische Altistin Kathleen Ferrier, die, obwohl in vieler Beziehung so verschieden von der Haskil, doch die wichtigsten Eigenschaften mit ihr gemein hatte, und zwar eine echte Bescheidenheit und Schlichtheit sowohl auf der Bühne als auch privat. Ihr Musizieren war frei von jeglichem Manierismus und direkt und unmittelbar. Der überwältigende Eindruck, den diese Künstlerin auf mich gemacht hat, war ausschlaggebend für meine musikalische Entwicklung.
PF: Es gibt noch einige andere Künstler, die mein musikalisches Denken beeinflußt haben, und zwar ist einer davon Bruno Walter, den ich noch persönlich erlebt habe und dessen Proben ich beiwohnen durfte. Ein anderer ist Felix Weingartner, den ich leider nur durch Schallplatten und einen Kurzfilm kennengelernt habe. Außerdem waren es zwei Ballettänzerinnen, die Engländerin Alicia Markova und die Dänin Toni Lander, die durch ihr Tanzen alles das ausdrückten, was ich bei den vorher erwähnten Musikern so sehr bewundere. In späteren Jahren kam ich noch unter den Einfluß der kürzlich erst verstorbenen großen Pianistin Youra Guller, einer Freundin der Haskil und doch vollkommen verschieden von ihr.
PF: Von meinen wirklichen Lehrmeistern möchte ich die folgenden erwähnen: Meine erste Lehrerin, die Emil-von-Sauer-Schülerin Gerti Reiner, die sowohl menschlich als auch musikalisch sehr viel zu meiner Entwicklung beigetragen hat, und Dr. Hans Heimler, ein Schüler von Heinrich Schenker, Felix Weingartner und Alban Berg, der mich in die Schenker-Analyse einweihte und der mir all die ungeheuer wichtigen theoretischen Kenntnisse über Form, Analyse, Motivik, Satzbau etc. vermittelt hat. Durch ihn lernte ich erst die Struktur eines Werkes zu verstehen, die Motivzusammenhänge und die harmonische Funktion. Durch ihn und durch die vorher erwähnten Musiker wurde mir folgendes verständlich: nämlich daß es keine Kontraste gibt, die nicht aus einer Einheit herrühren, und daß Form für ein Kunstwerk nicht nur Hülle ist, sondern zugleich auch Skelett, und daß jede Note für den gesamten Aufbau eines Werkes von Bedeutung ist.
NL: Kommen wir jetzt zu einem Themenbereich, der vielleicht zu den interessantesten und reizvollsten Ihrer Arbeit zählt: Technik oder, etwas schöner ausgedrückt, Handwerk. Fangen wir mit der Körperhaltung an.
PF: Zu wenige Klavierpädagogen achten auf die richtige Sitzart und Körperhaltung der jungen Pianisten. Diese sowie die Höhe und die Stabilität des Klavierstuhls sind das sine qua non für das richtige Spiel. Auch bei den schwierigsten Passagen sollte der Körper ruhig und der Gesichtsausdruck unverändert bleiben. Bei vielen Pianisten verursacht allein das Denken an einen Akkord schon eine unnötige Veränderung bzw. Anspannung von Muskeln - Fixierung des Nackens, Hochziehen der Schulter oder Verkrampfung der Oberschenkel, was für die bevorstehende Aktion vollkommen überflüssig, ja sogar hinderlich ist. Den Ausdruck ‚Entspannung´ verwende ich ungern, da wir ohne Spannung nicht spielen können, doch dürfen nur die momentan gebrauchten Muskeln oder Sehnen in Spannung sein, der Rest des Körpers muß völlig ruhig bleiben. Viele Pianisten vermeinen ausdrucksvoll zu spielen, indem sie das Gesicht verzerren und unschöne Bewegungen mit dem Körper ausführen. Künstler wie Horowitz und Heifetz bewegen sich auch nicht beim Spielen, ihre Gesichter strahlen eine vollkommene Ruhe aus, und auch die technisch schwierigsten Stellen spielen sie mit großer Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, und trotzdem so unbeschreiblich aufregend und elektrisierend.
Nach der ersten Armbewegung, die die Finger mit den Tasten in Berührung bringt, sollte die Bewegung von den Fingern ausgehen und der Arm lediglich den Fingern freischwingend folgen. Die Finger sollten immer so nah wie möglich an den Tasten sein (von der Taste aus spielen), so daß die Taste wie eine Verlängerung des Fingers ist, die den Hammer in Bewegung setzt, der seinerseits die Saiten in Schwingung versetzt. Die gesamte Aktivität einer koordinierten Aufführung kann als wechselseitige Energieströmung zwischen dem Ausführenden und seinem Instrument bezeichnet werden. Das Paradoxe daran ist aber, daß sich der Ausführende diesem Strom unterwerfen muß, um ihn kontrollieren zu können. Mit dieser Aussage kommen wir dem ZEN in der Kriegskunst des Fernen Ostens nahe. Nur auf diese Weise kann der ein erhebendes Gefühl vermittelnde Eindruck entstehen, als spiele das Klavier von selber. Ich rate meinen Schülern stets, Eugen Herrigels Buch "Zen in der Kunst des Bogenschießens" zu lesen.
NL: Vorhin erwähnten Sie bereits Ihre ungewöhnlichen Fingersätze. Warum verwenden Sie diese auch im Unterricht, obwohl doch die Gefahr besteht, daß man neue Schüler eher verunsichert, wenn man ihnen alle erlernten "Regeln" nimmt?
PF: Meiner Meinung nach gibt es oft konventionelle Fingersätze, die eine melodische Bewegung nicht so gut ausdrücken wie solche, die auf den ersten Blick eher merkwürdig wirken. Da ich also das Glück hatte, als Autodidakt angefangen zu haben, blieb es mir erspart, Fingersatzregeln zu lernen, die meinen musikalischen Willen einengen könnten. Um auf den Daumen zurückzukommen, es stört mich immer, wenn man Skalen oder Phrasen aus purer Gewohnheit mit dem Daumen beginnt, bloß weil man es seit der ersten Klavierstunde so gelernt hat (C-Dur zum Beispiel). Dagegen tu ich gern das Verbotene: Ich benutze den Daumen mit Vorliebe auf den schwarzen Tasten. Der Daumen ist für mich im Grunde eher ein Finger der Mitte, über dem sich die anderen Finger bewegen. Dadurch entsteht eine Art elliptischer Bewegung; in der rechten Hand geht sie fast immer gegen den Uhrzeigersinn und links umgekehrt, so daß der 5. Finger meistens nach innen spielt. Selbstverständlich verunsichere ich die Schüler mit dieser für sie neuen Einstellung, aber nach kurzer Zeit gewöhnen sie sich daran und wählen spontan ganz ähnliche Fingersätze wie ich, die sich aus dem musikalischen Zusammenhang ergeben, aber auch im gegebenen Moment austauschbar sind. Ich verlange von ihnen oft, eine Melodienfolge mit einem Finger zu spielen, so daß ich sie soweit wie möglich vom Fingersatzgedächtnis befreie, welches sowieso nicht immer verläßlich ist. Dadurch wird ihr musikalisches Gedächtnis geschult und jegliches computerartige Spiel vermieden. Als ich einmal die Haskil fragte, welchen Fingersatz sie an einer bestimmten Stelle genommen hätte, schaute sie mich verdutzt an und antwortete: "Was gerade kommt!" Ähnliches habe ich auch mit Shura Cherkassky erlebt. Natürlich gibt es aber auch Stellen, wo man einen Fingersatz festsetzen sollte, vor allem bei unpianistischen Passagen. Ich begegne immer noch vielen Musikern, die bis heute nicht wissen, daß ein Fingersatz etwas Schöpferisches sein kann, denn jeder Fingersatz ruft eine andere Bewegung hervor und jede Bewegung einen anderen Fingersatz und somit auch einen neuen musikalischen Verlauf. Wenn man jungen Musikern dieses verständlich machen kann, gewinnt ihr Spiel sehr an Spontaneität und Unmittelbarkeit.
NL: Sie versuchen also, Ihre Schüler, soweit es überhaupt geht, von körperlichen Zwängen zu befreien, um eine geistige Freiheit zu erreichen, die eine Interpretation viel unmittelbarer gestalten kann?
PF: Ja. Aber das bedeutet nicht, daß ich eine Anarchie befürworte! Ganz im Gegenteil, man benötigt eine viel größere Disziplin, um diese Freiheit zu erreichen, aber viele Musiker haben Angst vor dieser Freiheit. Worum es hier geht, wird in Dostojewskis "Großinquisitor" klar; dort zeigt er, daß sich der Mensch vor nichts mehr fürchtet als vor der totalen Freiheit. Manche Schüler sind dem nicht gewachsen. Ihnen rate ich zu einem eher konventionellen Lehrer überzuwechseln.
NL: Wenn man aber einige anerkannte Pianisten betrachtet, die sehr verspannt spielen, so könnte man meinen, daß eine körperliche Anspannung bzw. Verspannung auch Vorteile haben könnte.
PF: Ein gewisses Maß an Spannung ist immer vorhanden und unbedingt nötig, wie schon vorher erwähnt. Man darf nur die richtige Spannung nicht mit falscher Anspannung verwechseln. Wir brauchen Spannung, um aufrecht zu gehen, zu stehen oder zu sitzen, eine Tasse zu halten oder Klavier zu spielen, ohne diese Spannung würde der Körper willenlos zusammenklappen wie bei einer Ohnmacht. Die von Ihnen erwähnten falschen Anspannungen, die bei manchen großen Pianisten vorhanden sind, sollte man auf keinen Fall übernehmen in der trügerischen Hoffnung, daß man dann so spielen würde wie sie. Sondern wir müssen es umgekehrt betrachten: Diese großen Künstler sind so begabt, daß sie trotz ihrer Verspannungen herrlich spielen können, aber keinesfalls auf Grund solcher Fehler. Wenn wir von großen Künstlern etwas lernen wollen, so müssen wir die positiven Eigenschaften übernehmen, aber nicht ihre Eigenarten, die sowieso nicht imitierbar sind. Man muß eine künstlerische Laufbahn bis auf deren Anfang zurückverfolgen, um sie zu begreifen. Wir können ja auch nicht von Mondrians Weiß auf Weiß ausgehen und ihn in diesem Endstadium imitieren. Um diese Malweise überhaupt zu verstehen, müssen wir seine frühen romantischen Landschaften und Bäume studieren, die zu seinem abstrakten Spätwerk führen. Vom Endpunkt einer künstlerischen Laufbahn auszugehen ist sowohl zu einfach als auch gefährlich.
NL: Kommen wir zu einem Bereich, der für Sie von entscheidender Bedeutung ist: der Belcanto und seine Beziehung zum Klavier. Sie gehören zu den wenigen, die den Belcanto noch als Klangideal für das Klavier gelten lassen. Warum setzten Sie sich so dafür ein, und wer hat Sie am stärksten beeinflußt?
PF: Vor allem die Schallplatten, die ich seit meiner Kindheit kenne und die ich heute sammle. Wir dürfen nicht vergessen, daß die großen Sänger der Vergangenheit die Komponisten ihrer Zeit inspiriert haben. So wissen wir, daß Giuditta Pasta oder die Malibran durch ihre Stimmen Bellini, Chopin, Donizetti oder deren Zeitgenossen anregten. Chopin sagte häufig im Unterricht: "So hätte die Pasta diese Phrase gesungen"; er war ein leidenschaftlicher Opernbesucher, und der Einfluß des Belcanto ist in allen seinen Kompositionen deutlich hörbar. Als er eines Tages "Norma" hörte, war er so beeindruckt, daß er anschließend die Etüde op. 25,7 in cis-Moll schrieb, in welcher er das Thema der Arie der Norma am Anfang des zweiten Aktes benützte. Meiner Meinung nach können wir weder Mendelssohn noch Chopin noch viele andere Komponisten verstehen, ohne den Belcanto zu kennen. Es ist bedauerlich, daß so wenige Pianisten unserer Zeit noch den Klangsinn der großen Pianisten der Vergangenheit, wie z. B. Friedman, Hofmann oder Lhévinne besitzen. Clara Haskil hat mir oft bestätigt, welche Bedeutung die großen Sänger, die sie seit frühester Kindheit in der Wiener Oper gehört hatte, für ihre Klangvorstellung und ihr cantables Spiel haben.
NL: Ihr Klangideal ist also eine Imitation der menschlichen Stimme und nicht eine Auffassung, die immer mehr Pianisten heute zu vertreten scheinen, die das Klavier fast wie ein Schlagzeug "bearbeiten".
PF: Ja. Natürlich gibt es percussive Musik für Klavier, vor allem in unserem Jahrhundert. Aber im allgemeinen ist das Klavier ein Gesangsinstrument, oder besser gesagt, ein Instrument, welches die Illusion erwecken kann, daß eine menschliche Stimme singt, oder auch, daß ein Cello oder ein Blasinstrument erklingt.
NL: Also Klavierspiel als eine Illusion oder Imagination?
PF: Sicherlich! Sie müssen noch einen anderen Aspekt berücksichtigen. Wenn ein Sänger oder ein Streicher einen Ton erzeugen will, so muß er ihn selber schaffen, er hat den Ton nicht wie wir Pianisten fix und fertig unter den Fingern liegen. Daraus ergibt sich folgendes Problem: Alle Musiker, mit Ausnahme der Tastenspieler, müssen den Ton, bevor er klingt, innerlich hören; wenn ein Pianist z. B. vor dem Anschlag den Leitton h, der zum c drängt, nicht anders hört als das h, das nach dem c wieder zum a herunterführt, ja, wenn er diesen Unterschied nicht hören kann, und das h immer gleich spielt, dann hat er einen der wichtigsten Aspekte des Musizierens verfehlt. Ein cis muß anders als ein des gehört und gespielt werden, eine Quinte hat eine andere Spannung als eine Septime, ein Intervall braucht etwas mehr Zeit als ein anderes. Ohne das genau zu spüren, bleiben Agogik und Rubato künstlich.
Wir wissen ja, daß alle Komponisten, ob Bach, Chopin, Clementi, Liszt, Mendelssohn, Schubert oder Thalberg über das Singen des Instruments gesprochen haben, und daß sie ein cantables Spiel entwickelten, welches der Gesangsstimme nahe kam.
NL: Sie setzten sich sehr dafür ein, daß auch wenig gespielte Werke ins Repertoire ihrer Schüler aufgenommen wurden. Warum?
PF: Das hat verschiedene Gründe. Zum Beispiel weil es unbeschreiblich viele vernachlässigte Meisterwerke großer Komponisten gibt, zum Beispiel Weber, Mendelssohn, Händel, Haydn oder die BachSöhne. Was kennen wir denn von Mendelssohn? Die Variations sérieuses, eine Fantasie und ein paar Lieder ohne Worte. Oder von Weber? Höchstens die Aufforderung zum Tanz(!), obwohl er vier wunderbare Sonaten, Variationen und kürzere Werke geschrieben hat. (Ganz zu schweigen von dem Einfluß, den Weber auf jemanden wie Chopin ausübte.) Auch Beethovens Klaviermusik wird zum Teil vernachlässigt, wie z. B. die Polonaise oder die Fantasie. Von seinen Variationswerken kennen wir lediglich die Diabelli-, Eroica- und die c-Moll-Variationen, obwohl Beethoven 21 Variationswerke für Klavier geschrieben hat; von den Sonaten werden einige auch recht stiefmütterlich behandelt, so die op. 31,1 oder die op. 54; dafür hören wir die Wald-stein oder die Appassionata bis zum Überdruß. Dasselbe gilt praktisch für alle Komponisten, und zwar gibt es von fast allen ein paar sehr beliebte Stücke, die das restliche Œeuvre in den Schatten stellen.
Ich teile nicht die Meinung mancher Experten, daß ein vernachlässigtes Werk zu Recht vernachlässigt wird, und daß ein anderes Werk so oft gespielt wird, weil es von höherer Qualität zeugt. Popularität ist kein Beweis für Qualität. Beethovens Fünfte ist populärer als das cis-Moll-Quartett op. 131. Ein Fußballspiel oder Popkonzert hat größeren Zulauf als ein Kammermusikabend.
Außerdem ist es von großer Wichtigkeit, daß junge Pianisten sozusagen mit den Komponisten wachsen, indem sie sich mit den Frühwerken auseinandersetzen, bevor sie zu den Spätwerken gelangen. Ich halte es für unsinnig, sogar anmaßend, wenn junge Pianisten ihr Debüt zum Beispiel mit op. 111 von Beethoven oder mit der h-Moll-Sonate von Liszt geben. Es gehört eine große Lebenserfahrung und Reife, beim Liszt-Werk sogar eine gründliche Kenntnis von Goethes Faust dazu, um diesen Werken gerecht zu werden. Als man Schnabel fragte, warum er in seinen jungen Jahren so viel Salonmusik gespielt habe, sagte er, daß gerade diese Musik ihm zum Verständnis der sogenannten Meisterwerke verholfen habe. Auch sind sehr oft Werke von vielleicht weniger bedeutenden Komponisten sehr aufschlußreich für das Verständnis ihrer größeren Zeitgenossen oder Nachfolger. Es gibt herrliche Werke von Czerny, Clementi, Hummel, Field und Moscheles, die viel zu wenig Anerkennung gefunden haben. Dasselbe gilt dem Klavier-Œeuvre von Smetana und Dvorák. Ich bin überhaupt dagegen, daß man Werke auf die Waage stellt und Werturteile über sie abgibt. Jedes Werk hat seine Qualitäten und ist nicht besser oder schlechter als ein anderes, sondern nur verschieden. Wir können auch nicht behaupten, daß ein Adler wichtiger sei als ein Spatz, oder eine Rose schöner als ein Veilchen. Außerdem ist das Studium auch unbekannterer Werke für den jungen Pianisten von großer Wichtigkeit, weil er wenig oder gar nicht die Interpretation anderer Pianisten nachahmen kann und dadurch zu selbständigem musikalischem Denken gezwungen wird. Auch wird er nicht von seinen berühmten Vorbildern eingeschüchtert, er wird von den Kritikern oder dem Publikum nicht mit ihnen verglichen, und er kann Werke vorweisen, die kaum ein anderer Pianist in seinem Repertoire hat.
NL: Wie erreichen Sie, daß Ihre Schüler in möglichst kurzer Zeit ein Maximum an Repertoire lernen?
PF: Ich habe sehr oft Studenten getroffen, die in relativ langer Zeit nur sehr wenige Stücke gelernt hatten. So traf ich z. B. kürzlich einen Studenten einer deutschen Hochschule, der in drei Jahren nur sechs Werke gelernt hatte und dann seine Reifeprüfung glänzend bestand. Nach der Prüfung stand er dann mit der Waldstein-Sonate, Brahms´ Händel-Variationen, Mozart-Sonate, Bach-Partita und noch zwei anderen Werken ratlos da, denn erstens war er der Werke überdrüssig und konnte sie kaum noch hören, und zweitens kann man eine Karriere mit einem so begrenzten Repertoire nicht beginnen. Um dieses zu vermeiden, gebe ich meinen Schülern in einer Woche z. B. ein Präludium und Fuge von Bach auf, drei Scarlatti- oder Soler-Sonaten, drei Chopin-Etüden, die Abbegg-Variationen, eine Beethoven-Sonate und ein Variationswerk von Mozart. Beim nächsten Unterricht gehen wir die Werke durch, soweit die Zeit reicht (natürlich können wir nicht in alle Einzelheiten gehen, aber wir entdecken doch genug Probleme, die allen Werken gemein sind, oder Probleme, die spezifisch für ein bestimmtes Werk gelten, auf jeden Fall genug, um dem Schüler Anregungen zu geben, daß er zu einem späteren Zeitpunkt allein daran weiterarbeiten kann). In der Woche darauf arbeitet der Schüler an einem anderen Präludium und Fuge von Bach (oder einem Werk von Händel), drei weiteren Scarlatti- oder Soler-Sonaten, einer anderen klassischen Sonate, einem anderen Variationswerk, wieder drei Etüden von Chopin, vielleicht auch von Mendelssohn oder Liszt usw. Von diesen Werken werden einige immer wieder aufgenommen und studiert, um dann eventuell in einem Konzert oder, wenn erforderlich, in einem Wettbewerb oder sogar in einer Prüfung gespielt zu werden.
NL: Aber ist so eine Aufgabe innerhalb einer Woche überhaupt zu schaffen, wenn man davon ausgeht, daß die Schüler nicht 12 Stunden am Tag üben?
PF: Natürlich hängt das erstens vom Talent des Schülers ab. Zu Beginn finden die meisten es sehr schwer, nach einer gewissen Zeit jedoch wird ihre Fähigkeit zum schnellen Lernen in solchem Maße gesteigert, daß sie es selbst kaum für möglich halten. Die guten Blattspieler (ich meine jetzt nicht diejenigen, die ein Werk oberflächlich und mechanisch herunterspielen, sondern solche, die es sofort mit allen Einzelheiten und Nuancen prima vista musikalisch gestalten können) haben es im allgemeinen leichter, weil ich am Anfang nicht verlange, alles auswendig zu spielen, aber mit der Zeit wird auch das Auswendiglernen (es gibt natürlich Talente, die es sofort schaffen) immer leichter. Wenn man dagegen gewohnt ist, monatelang an einem Werk zu schuften, verliert man erstens die Distanz zum Werk, die ich für sehr wichtig halte, und zweitens wird die Lerngeschwindigkeit und Geschmeidigkeit des Denkens nicht entwickelt. In der Praxis ist es tatsächlich so, daß auch ein Werk, an dem lange nicht gearbeitet worden ist, sich verbessert und weiterentwickelt durch die Arbeit an anderen Werken. Kinder lernen ja auch eine oder mehrere Sprachen ohne jegliche Mühe; das Kind macht es unbewußt, wir müssen, wenn auch bewußt, dasselbe wieder erlernen.
NL: Wieweit gehen Sie auf den Schüler als Individuum ein?
PF: Vollkommen. Eine der wichtigsten Eigenschaften eines Pädagogen ist die Fähigkeit, die Natur des Menschen, der in seine Obhut gegeben ist, zu erkennen und verstehen zu lernen. Es gehört eine beinah hellseherische Fähigkeit dazu, zu erkennen, was alles in einem Schüler schlummert. Sein Einfühlungsvermögen läßt den Pädagogen erraten oder, besser gesagt, spüren, was an einem Schüler echt oder ihm falsch anerzogen worden ist. Im Grunde kann man einem Schüler nichts beibringen, was er nicht schon innerlich erlebt oder erfahren hat. Es mag bei ihm unbewußt oder bewußt sein, aber ebenso wenig, wie wir einem Blinden die Farbe Rot erklären können, wenn er sie nie gesehen hat, oder einem Tauben eine Schubert-Sinfonie, wenn er sie nie gehört hat, können wir einem jungen Musiker eine Emotion beibringen, wenn sie ihm nicht gegeben ist. Wie oft hört man einen Pädagogen dem Schüler zurufen, er müsse etwas mehr Leidenschaft in eine gewisse Stelle im Werk hineinlegen, oder er solle mit mehr Gefühl spielen, als ob man Leidenschaft und Gefühl wie aus einer Gießkanne in ein Werk hineingießen kann! Der junge Pianist ist entweder mit Leidenschaft geboren oder nicht, sie kann in ihm schlummern und zu gegebener Zeit erwachen, aber das einzige, was ein solcher Zuruf bewirkt, ist eine seichte Nachahmung von Gefühl oder Leidenschaft, eine Wachsblume, eine Imitation oder ein Ersatz des Echten. Sehr oft wird Leidenschaft mit Hysterie, Stärke mit Gehämmer (Forte bedeutet stark, nicht immer laut) verwechselt, und Gefühl wird leider zumeist nur durch einen verzerrten Gesichtsausdruck oder eine übertriebene Körperbewegung ausgedrückt.
Beim Unterricht sollte man nie ein Rezept haben, welches man allen Schülern in gleicher Dosis verschreibt, genauso wenig wie wir die Schüler nach irgendwelchen Vorbildern formen sollten. Nur das vorhandene Potential können wir zu voller Blüte bringen. Ich persönlich bin auch sehr dagegen, daß der Lehrer dem Schüler während des Unterrichts häufig vorspielt, weil der Schüler dann nicht mehr selbständig denkt und zu sehr verleitet wird, in seinem eigenen Spiel den Lehrer oberflächlich zu imitieren, da ja im Grunde jede Aufführung eines Werkes, ob gut oder schlecht, einmalig und unwiederholbar ist. So sehr ich mich freue, daß uns das Spiel so vieler großer Künstler auf Schallplatten erhalten ist, muß ich doch gestehen, daß die Schallplatte eigentlich etwas Widernatürliches ist, indem sie das Einmalige und Unwiederholbare wiederholt.
Um auf die individuellen Probleme der Schüler einzugehen, schreibe ich für jeden einzelnen technische Übungen auf und wähle auch solche Stücke aus, die in diesem Stadium seiner Entwicklung für ihn wichtig sind, und die auch seiner Natur entsprechen. Sehr zart gebaute Schüler mit besonders kleinen Händen müssen nicht unbedingt das 2. Brahms- oder das 3. Rachmaninoff-Konzert spielen. Auch emotional sind nicht alle Schüler den gleichen Werken gewachsen. Was ich jedoch für alle Schüler von größter Wichtigkeit halte, ist das Studium der Barock-Musik, die von so vielen Pädagogen vernachlässigt wird, und die ja die Grundlage für die klassische, romantische und sogar zeitgenössische Musik ist. Es gibt zu viele Pianisten, die Barock-Musik so spielen, wie sie dasteht, ohne zu wissen, daß sie eine Art Noten-Stenografie vor sich haben. Die meisten von ihnen wissen nur wenig von Ornamentik, rhythmischen Veränderungen, Eigenheiten der verschiedenen Tanzformen, Tempi - vom bezifferten Baß und von Barock-Fingersätzen ganz zu schweigen -, obwohl es sehr viel Literatur darüber gibt, die es dem Pianisten ermöglicht, sein Wissen auf diesem Gebiet zu erweitern. Es ist mir unverständlich, daß die Aufführung der Barockmusik fast ausschließlich den Cembalisten oder den sogenannten Barock-Experten überlassen wird. Gerade diese Musik ermöglicht es dem jungen Pianisten, seine Phantasie, musikalische Erfindungskraft und sein Stilgefühl zu entwickeln. Ich glaube kaum, daß ohne das Studium dieser Musik die Komponisten der Vorklassik und der Klassik oder Komponisten wie Beethoven, Mendelssohn, Brahms und Chopin voll verstanden werden können.
NL: Glauben Sie, daß man alle bis jetzt erwähnten Punkte auch auf Musikschulen Übertragen kann, wo man es meistens mit Normalbegabungen zu tun hat; und wie ist es mit Anfängern?
PF: Erstens, was ist eine Normalbegabung? Wie ich vorhin schon gesagt habe, kann die Lernfähigkeit bei fast jedem Schüler gesteigert werden; und ich habe es oft erlebt, daß auch Anfänger, die bei einem meiner Schüler studierten, durch eigens für sie geschriebene Übungen, durch Anwendung der verschiedensten Fingersätze für dieselbe Passage und durch das Erarbeiten vieler Stücke innerhalb relativ kurzer Zeit viel schneller vorwärts kamen und mit viel größerer Leichtigkeit und besserem Klangsinn spielten als diejenigen, die bei anderen meiner Schüler arbeiteten, die sich noch nicht trauten, Anfänger auf diese Art zu unterrichten. Ich bin überzeugt, daß man all das auch in Hochschulen vollbringen kann, jedoch würde das einige Veränderungen des Musik- und Hochschulsystems und der Unterrichtsweise erforderlich machen. Verschiedene der mit mir befreundeten Musikpädagogen stimmen darin mit mir überein.
NL: Welche Eigenschaften sollte Ihrer Meinung nach ein Instrumentallehrer besitzen?
PF: Ein guter Instrumentallehrer darf sich vor allem nicht durch den Erfolg seiner Schüler verherrlichen lassen, sich also nicht in den Vordergrund stellen. Ein ausführender Künstler darf, ja muß eigentlich etwas egozentrisch sein, für einen Lehrer ist jede Egozentrik und jeder Egoismus von großem Nachteil. Deswegen sind große ausführende Künstler sehr oft ungeeignete und zuweilen sogar destruktive Lehrer. Man muß sich seiner Begabung als Pädagoge und Musiker durchaus bewußt sein, aber auch seine Schwächen kennen und immer versuchen, sich fortzubilden durch Meinungsaustausch mit Kollegen. Am meisten lernt der Lehrer durch seine Schüler, unabhängig davon, ob die Schüler hoch- oder minderbegabt sind. Die eigene Fortbildung aber darf sich nie ausschließlich auf die Musik beschränken.
Um auf Ihre zu Beginn des Interviews gemachte Feststellung zurückzukommen, daß ich meine pianistische Laufbahn zugunsten der pädagogischen aufgegeben habe, möchte ich hiermit richtig stellen, daß ich im Grunde die pianistische Laufbahn nicht zugunsten der pädagogischen aufgegeben habe (das Pädagogische hat sich erst allmählich ergeben), sondern der eigentliche Grund waren meine zahlreichen Interessen (z. B. Psychologie, Philosophie, orientalische Musik, Malen und hauptsächlich Komponieren), die mir damals wichtiger erschienen als das tägliche, aber unerläßliche Üben, um eine pianistische Laufbahn aufrecht zu erhalten. Ich gehe mit meinen Schülern regelmäßig ins Ballett und Theater, in die Oper, in Museen usw., da diese Anregungen sich sowohl auf den Menschen als auch auf ihr Musikverständnis auswirken.
Es ist äußerst wichtig, daß der Pädagoge den Intellekt und den Verstand des Schülers entwickelt, ohne dabei die Intuition zu zerstören. Der Intellekt des Musikers strebt nach Wissen, sein Verstand sucht nach dem Sinn der Dinge. Kant hat das schöner ausgedrückt als ich. Um diesen Vorgang nicht zu beeinträchtigen, muß der Lehrer intuitiv spüren, wann er einem Schüler etwas sagen soll und wann nicht. Man sollte den Schüler dazu bringen, seine eigenen musikalischen Entdeckungen zu machen. Darum ist es oft vorzuziehen, ihm einen Fehler durchgehen zu lassen, damit er im richtigen Moment selber darauf kommt. Es ist so viel wertvoller für die Entwicklung des Schülers, wenn er einen Fehler aus eigener Erkenntnis verbessert, als wenn er es nur tut, weil der Lehrer ihn darauf aufmerksam gemacht hat; dies ist ein wichtiger Schritt zur Unabhängigkeit des Schülers vom Lehrer. Eine der wichtigsten Eigenschaften des Lehrers ist Geduld, also warten zu können und die Entwicklung des Schülers nicht durch zu aktive Einmischung zu hemmen.
NL: Welche Bedeutung hat der Interpret im Vergleich zur Komposition? Was halten Sie von Werktreue im Gegensatz zu individueller Interpretation ?
PF: Ich habe oft gehört, wie man den Wert der Komposition mit dem der Interpreten vergleicht. Die Komposition ist weder wichtiger als der Interpret, noch ist der Interpret wichtiger als die Komposition. Sie sind eben nicht vergleichbar. Ohne Interpreten würde die Musik nie zu Gehör kommen, und ohne die Komposition hätte der Interpret keine Funktion. Die Interpretation ist, um es kraß auszudrücken, die Fortsetzung der Komposition. Werktreue ist ein oft mißbrauchtes Wort. Die Notierung einer Komposition kann alles ausdrücken außer dem Wesentlichen: Die vielen schwarzen Punkte sind, wie ich schon vorher im Zusammenhang mit der Barock-Musik erwähnte, was aber auch für andere Musik gilt, eine Art Stenografie, die von dem Interpreten in Langschrift übersetzt werden muß, erst dann werden die Worte zu Sätzen, danach werden gewisse Worte im Satz betont und mit Gefühl ausgedrückt, dazu müssen aber die Satzzeichen wie Punkte und Kommata usw. an den richtigen Stellen gesetzt werden, weil ein Komma je nachdem, wo man es setzt, den Sinn des Satzes verändert. Da Musik meistens vielschichtig ist, muß die Dynamik jeder einzelnen Stimme bestimmt werden. Auch das richtige Tempo muß gefunden werden (die manchmal in der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts hinzugefügten Metronom-Bezeichnungen sind sehr wichtig, aber mit Vorsicht zu genießen), das Rubato, von dem ich schon vorher gesprochen habe, muß sich natürlich und ungezwungen ergeben. Erst dann sind die Voraussetzungen geschaffen für das Allerwichtigste: den Geist, ohne den das Werk leblos ist. Wie Sie sehen, sind es sehr viele verschiedene Kriterien, die eine Komposition zum Leben erwecken. Jede Interpretation ist ein Ereignis des Augenblicks, und wenn man davon ausgeht, daß Wunder nicht wiederholbar sind, wird jede Aufführung zu einem neuen Wunder. Daraus ergibt sich, daß der Begriff Werktreue im Grunde nicht existiert.
Wir sollten selbstverständlich soweit wie möglich von Urtext-Ausgaben Gebrauch machen, weil durch pedantische Herausgeber, die ihren Beruf als Buchhalter verfehlt haben, die Werke oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind. Die meisten Komponisten, die für Klavier komponiert haben, waren auch hervorragende Pianisten und gaben sich oft unsägliche Mühe, die genaue Handeinteilung zu notieren (siehe Beethoven op. 110, die Zweiunddreißigstel-Figuren im ersten Satz, oder den Anfang der Hammerklavier-Sonate, oder op. 111 oder den Schluß der cis-Moll-Etüde op. 10 Nr. 4 von Chopin usw.). Daher bin ich sehr gegen eine eigenmächtige Einteilung der Hände, d. h. daß man mit der rechten Hand etwas übernimmt, was für die linke gedacht war (Ausnahmen sind große Griffe für kleine Hände oder wo es von spezifisch musikalischem Sinn ist), weil es so oft dem musikalischen Inhalt widerspricht. Einige meiner hochverehrten Kollegen, die ich sonst sehr schätze, sind anderer Meinung.
Zusammenfassend möchte ich noch sagen, daß, obwohl der Satz eines Werkes festliegt und man danach trachten sollte, soweit wie möglich dem Notentext treu zu bleiben, dennoch jede Interpretation eine individuelle Aussage des Spielers ist. Diese Individualität sollte von jedem Lehrer gefördert und nicht unterdrückt werden. Schließlich ist das Wichtigste in jeder Interpretation, daß sie zugleich unvorhersehbar und doch unvermeidlich erscheint.
NL: Viele Ihrer Schüler haben bereits bedeutende Wettbewerbe gewonnen, und Sie waren oft Mitglied der Jury bei solchen Veranstaltungen. Trotzdem haben Sie eine eher ablehnende Haltung Wettbewerben gegenüber. Warum?
PF: Ich möchte nicht so weit gehen wie ein berühmter Musiker unserer Tage, der gesagt hat, Wettbewerbe seien nur für Pferde, und doch ist die Bemerkung nicht ganz aus der Luft gegriffen.
Im Gegensatz zum Pferd ist ein außergewöhnlicher Mensch und Künstler nicht besser als ein anderer, er ist nur verschieden. Die weniger außergewöhnlichen sollten sowieso nicht zu Wettbewerben gehen. Auch fördern Wettbewerbe sehr häufig Qualitäten, die nicht unbedingt etwas mit Kunst zu tun haben, jedoch in Verbindung mit künstlerischen Qualitäten für eine erfolgreiche Karriere wichtig sind. Das sind vor allem starke Nerven, Ausdauer und fehlerfreies Spiel. Also hätten viele der genialsten Pianisten der Vergangenheit nie einen Wettbewerb gewonnen. Zuweilen scheiden die größten Talente schon in der ersten Runde aus, weil sie aus Nervosität selten sofort ihr Bestes geben können, sondern sich langsam einspielen müssen, und auch weil manche großen Künstler zu individuell sind, um von etwas konventionelleren Juroren akzeptiert zu werden. Wettbewerbe fördern schnelles, lautes und mechanisches Spiel, das nur die sensibelsten der Juroren verletzt, aber von den meisten bewundert wird. Das gleiche gilt für das Publikum, das, durch die Medien beeinflußt, auch zum großen Teil seine Urteilsfähigkeit verloren hat. Ich möchte aber hinzufügen, daß es natürlich auch Künstler gegeben hat, die den ersten Preis durchaus verdient haben, was auch durch eine erfolgreiche Karriere bestätigt wurde. Aber viele Preisträger der immer zahlreicheren Wettbewerbe sind spurlos in Vergessenheit geraten. Wenn ein junger Pianist die Werke, die in einem bestimmten Wettbewerb verlangt werden, in seinem Repertoire hat und diese Werke auch schon einige Male in Konzerten gespielt hat, sehe ich keinen Grund, daß er nicht daran teilnehmen sollte, aber sich speziell für einen Wettbewerb vorzubereiten, dadurch womöglich den ungezwungenen Arbeitsrhythmus zu unterbrechen mit dem Ziel des Wettbewerbs im Auge, halte ich nicht für ratsam. Ich kann nur noch einmal darauf hinweisen, was ich zu Beginn des Interviews schon metaphorisch ausdrückte, und zwar wenn der Schüler mit einem Auge immer aufs Ziel schaut, bleibt ihm nur ein Auge, um den Weg zu finden. Außerdem besteht die Gefahr, daß ein junger Künstler, wenn er einen Wettbewerb gewonnen hat, weder die Ausdauer noch das Repertoire oder die Reife hat, um eine erfolgreiche und anstrengende Karriere durchzuhalten. Auch bleibt ihm danach keine Zeit mehr, sich weiter fortzubilden.
NL: Im Zusammenhang mit den Eigenschaften, die ein Instrumentallehrer besitzen sollte, erwähnten Sie, daß Sie neben dem Unterrichten auch komponieren und sich mit außereuropäischer Musik beschäftigen. Beeinflußt dies Ihre pädagogische Arbeit?
PF: Ich glaube, daß ein Komponist ein musikalisches Werk anders betrachtet als diejenigen Musiker, die nicht komponieren. Jedoch selbst wenn man alle Regeln der Komposition versteht, bleiben viele Geheimnisse unergründlich, zum Beispiel die Geheimnisse des ‚Chaos´ aus der ‚Schöpfung´ von Haydn, die Geheimnisse einer besonderen harmonischen Wendung einer Mozart- oder Rossini-Oper, oder die einer Modulation von Schubert, oder die des Zaubers des langsamen Sat-zes von Schumanns Klavier-Quartett in Es-Dur. Das sind eben Wunder, die nicht erklärbar sind. Komponieren kann man nicht lernen, aber man kann das Handwerk lernen, durch das die schöpferische Kraft angeregt wird.
Ich persönlich habe dieses Handwerk hauptsächlich durch ein dreijähriges intensives Studium des Palestrina-Kontrapunkts gelernt, welches mein polyphonisches Verständnis und Denken grundlegend beeinflußt hat. Darum kann ich auch nicht verstehen, warum junge Pianisten, selbst wenn sie an den besten Akademien ausgebildet worden sind, so oft ein Fugenthema völlig überflüssigerweise heraushämmern wollen, hohe Töne immer akzentuieren, nach oben crescendieren oder jeden Taktstrich hörbar machen. Auch im Korrepetieren von Kammermusik hat mir meine Kompositionslehre sehr geholfen. Was mein Studium orientalischer Musik anbelangt, so hat diese (ich studierte fünf Jahre lang arabische und indische Musik und deren Instrumente) hauptsächlich aufgrund der Mikrotöne mein Gehör ganz erheblich verfeinert. Da das rhythmische Element in der indischen Musik weitaus komplizierter ist als dasjenige westlicher Musik, wurde auch mein rhythmisches Gefühl in höchstem Maße entwickelt. Ebenfalls wurden mein Interesse und Verständnis für die Ornamentik sowohl der Barock- als auch der spanischen Musik (von Soler bis Albeniz) durch die indische und arabische Musik sehr gefördert. Viel Zeit bleibt mir zwar nicht dafür, aber ein bis zwei Werke im Jahr schaffe ich doch noch, meistens komponiere ich im Flugzeug auf dem langen Weg nach Japan, den Vereinigten Staaten oder Brasilien. Ich habe dann im Kopf praktisch alles fertig konzipiert und muß es nur noch aufschreiben. Wenn ich allerdings fürs Klavier komponiere, brauche ich dazu ein Instrument. Das Komponieren gibt mir immer wieder neue Anregungen für die Arbeit mit meinen Schülern.
NL: Gibt es eine Philosophie, die Sie in Ihrer Arbeit als Leitbild anerkennen?
PF: Zur Beantwortung dieser möchte ich noch einmal auf Herrigels "Zen in der Kunst des Bogenschießens" zu sprechen kommen, weil in diesem Buch all das steht, was Lehrer und Schüler üben sollten. Die Beziehung zwischen ‚Meister´ und ‚Lehrling´ ist in diesem Buch ungemein aufschlußreich und einleuchtend geschildert. Natürlich müssen wir in der westlichen Zivilisation Kompromisse schließen, da wir in einer Gesellschaft leben, die von Terminen reglementiert wird. Wir müssen das Konzert an einem bestimmten Tag geben und können eben nicht warten, bis ‚es´ von selbst geschieht. Doch der Grundgedanke der Zen-Philosophie ist die Basis meiner Einstellung zum Unterricht und zur Kunst.
NL: Können Sie noch einmal mit wenigen Worten Ihre Funktion als Lehrer zusammenfassen?
PF: Ein Freund und Kollege von mir sagte einmal sehr schön, daß man aus einer Rose keine Nelke machen kann und umgekehrt, also sehe ich mich wie er als Gärtner, dessen Aufgabe es ist, die ihm anvertrauten Pflanzen so zu pflegen und zu betreuen, daß jede einzelne zu ihrer vollen Blüte gelangt. So wie der Same der Pflanze, muß das Talent vorhanden sein, denn ohne ihn kann kein Gärtner etwas ausrichten. Wenn der Same aber da und der Boden fruchtbar ist, hängt das Wachsen, Gedeihen und Blühen von der Umgebung, der Witterung und der Geduld des Gärtners ab. Er muß wissen, wann die Pflanzen Wasser, wann und wieviel Sonne sie brauchen, und vor allem muß er wissen, wann er sie sich selbst überlassen sollte.
NL: Und so hätten wir am Schluß das Bild eines autodidaktischen Gärtners, der seine Pflanzen so pflegt, daß sie sich frei und spontan entwickeln können und so dem Betrachter jeden Tag wie neu erscheinen, weil ihr Wachsen unter dem Motto steht: Unvorhersehbar, doch immer unvermeidlich. Herzlichen Dank!