Nichtfunktionelles und unnatürliches Bewegungsverhalten
am Klavier

© Peter Feuchtwanger

Die Belastungen und Verspannungen, mit denen viele Pianisten zu kämpfen haben, können aus ihrem eigenen nichtfunktionellen und unnatürlichen Bewegungsverhalten resultieren. Diese schlechten Gewohnheiten 1 verfestigen sich im Laufe vieler Jahre und führen durch Akkumulation zu fatalen Schäden für den Organismus. Peter Feuchtwanger geht zurück zu den Grundlagen einer natürlichen und funktionellen Klaviertechnik, um zu zeigen, an welcher Stelle viele Pianisten den falschen Weg gehen.
"§. 38. Alle unanständigen Mienen, Verzuckungen, Grimassen, wie sie den Namen haben mögen, desgleichen das Stampfen mit den Füßen, die Abtheilung des Taktes durch eine Bewegung des ganzen Körpers, das Schütteln oder Nicken mit dem Kopfe, das Schnauben bey dem Triller oder bey einer schweren Passage, u. dgl. muß man dem Lernenden, ohne Rücksicht des Standes und Geschlechtes, gleich anfangs nicht zulassen. Hier ist Artigkeit oder Nachsicht gegen ein Frauenzimmer sehr tadelhaft; denn ob gleich die Musik eigentlich nur durch das Gehör empfunden wird, so will doch auch das Gesicht dabey nicht beleidigt seyn. Mancher Musiker, welcher uns durch sein Spielen entzückt, schwächt den guten Eindruck merklich, wenn seine karrikaturmäßigen Zierereyen uns entweder zum Lachen reizen, oder wenn dessen scheinbare Konvulsionen die Anwesenden wohl gar in Furcht und Schrecken setzen."
In seiner Zeit war dieser amüsante Text, der sich an Klavierlehrer und Klavierschüler gerichtet hat, eine ernst gemeinte Einführung zu Daniel Gottlob Türcks Clavierschule aus dem Jahr 1789.
Wenn dieser Artikel in Piano erscheint, werde ich meine Klavierübungen auf dem Berliner Kongreß für Musikermedizin und Musikphysiologie (veranstaltet von den Berliner Philharmonikern) vorgestellt haben. Unter den Teilnehmern werden Ärzte, Physiotherapeuten, Psychologen und Musiker sein, die ständig von Musikern konsultiert werden. Diese suchen Hilfe für ihre individuellen physischen und mentalen Spielstörungen, die ihr Leben und ihre Karrieren auf das äußerste beeinträchtigen.
Sicher zielt Türks oben zitierter Kommentar mehr auf die ästhetische Seite des Klavierspiels. Dennoch sind es gerade diese von Türk so trefflich beschriebenen grobmotorischen, unschönen und unfunktionellen Bewegungsgewohnheiten, die schließlich zu ernsten Beeinträchtigungen des Spielapparates führen und in einigen Fällen sogar zu schweren Erkrankungen.
In dem vorhergehenden Artikel habe ich mich mit dem Thema Über die Bedeutung des richtigen Sitzens am Klavier beschäftigt (siehe: Piano, Juli/August 1997). Seitdem sind mir viele Pianisten mit den verschiedensten körperlichen Beschwerden begegnet, darunter Sehnenscheidenentzündung, Überbein und fokale Dystonie.
Diese Erkrankungen stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem besorgniserregenden Mißbrauch, welchen der Musiker mit seinem Körper treibt. Dieser wiederum resultiert aus der Unkenntnis der richtigen Funktionsweise und des richtigen Gebrauchs des Körpers.
An dieser Stelle möchte ich aus Harold Taylors beispielhafter und weitsichtiger Untersuchung zu diesem Thema zitieren. Sie wurde 1996 auf Deutsch im WUV Universitätsverlag Wien unter dem Titel Das Pianistische Talent veröffentlicht. Auf Seite 28 schreibt Taylor, daß "der Körper eine unteilbare Einheit ist, in der das Verhalten jedes einzelnen Teiles seinerseits von den Beziehungen aller Teile untereinander abhängt. Haltung ist somit etwas Umfassendes; sie bezieht sich sowohl auf die Lagebeziehung als auch auf den Zustand der die gesamte Struktur bildenden Teile und umgekehrt. (Die Begriffe "Lagebeziehung" und "Zustand" sind in dieser Feststellung austauschbar.)"
Wenn Pianisten und Klavierlehrer den oben beschriebenen Überlegungen mehr Aufmerksamkeit schenken würden, könnten viele dieser zur Arbeitsunfähigkeit führenden Ursachen korrigiert oder sogar verhindert werden.
Im Laufe meiner langjährigen Unterrichtserfahrung, während vieler Konzertbesuche und im Rahmen meiner Jurorentätigkeit in vielen Wettbewerben, war ich oft entsetzt und bestürzt über das Übermaß an schlechten körperlichen Gewohnheiten, die ich gleichermaßen bei Berufspianisten, Studenten und Schülern angetroffen habe. Einige Beispiele: falsche körperliche Haltung, als Folge eines zu hohen Sitzes am Klavier; unnötiges Anspannen und Heben der Schultern; Versteifung von Nacken, Ellenbogen, Handgelenk und Daumen sowie anderer Körperteile. Daraus resultiert ein Teufelskreislauf, der von anfänglichen Spielstörungen bis zu gefährlichen Krankheiten führt.
Deshalb sollte gerade Anfängern von der ersten Klavierstunde an der richtige Gebrauch des Körpers in besonderem Maße vermittelt und gründlich bewußt gemacht werden.
Dazu sollte der Lehrer die natürliche Körpersprache des Kindes und sein natürliches Bewegungsverhalten nicht beeinträchtigen.
Das Kind sollte nicht mit falschen Bildern (z. B.: "Stelle Dir vor, Du hast ein Äpfelchen in der Hand und Deine Finger sind kleine Hämmerchen.") in eine falsche Richtung lanciert werden. Dies schränkt von Anfang an das Bewegungsverhalten des Kindes ein und führt dazu, daß es auf dem Klavier spielt, statt in und mit der Taste Klavier zu spielen. Vielmehr müssen wir darauf achten, daß es die Töne als Teil einer vollkommen natürlichen Bewegung spielt und mitnimmt. So, wie sich seine ungeformten, unreifen Hände einfach eines Alltagsgegenstandes bemächtigen und dazu die natürlichen und angeborenen Mittel und Bewegungen einsetzen. Das führt zu einem ganz anderen, jedoch vollkommen natürlichen Zugang, der nicht mit konventionellen Fingersätzen einhergeht. Das Thema Fingersätze ist zu komplex, so daß ich es ohne eine praktische Demonstration im Rahmen dieses Artikels nicht beschreiben kann. Es ist zu wünschen, daß Kinder von Anfang an die richtige Anleitung und Aufsicht bekommen. Doch leider geraten sie oft unter einen falschen Einfluß, der sie in der so wichtigen jugendlichen Entwicklungsphase verdirbt. Dies führt dazu, daß Kinder vorzeitig die Freude am Klavierspielen verlieren oder sich später mit Spielproblemen abquälen müssen.
Wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß wir in einer Zeit leben, in der übertriebene Genauigkeit gefordert wird, insbesondere in Wettbewerben, bei denen man oft beobachten kann, daß der Pianist bloß aus Angst davor angespannt ist, daß er nicht den Standards entspricht, die ihm von den Aufnahmestudios diktiert werden.
In den 60er Jahren wurde ich von Arturo Benedetti Michelangeli, der Verkörperung von Genauigkeit und Exaktheit, zu einem Klavierwettbewerb in Bologna eingeladen. Zu meiner Überraschung sah ich an seiner rechten Hand ein unansehnliches Überbein, vermutlich als Folge einer unnötigen Spannung. Michelangeli war lebenslang von der Idee besessen, makellos und richtig zu spielen.
Es ist wahr, daß übertriebene Freiheit der Bewegungen gelegentlich falsche Töne verursachen kann. Dies ist bekannt von einigen der bedeutenden alten Pianisten wie etwa Alfred Cortot oder Youra Guller. Wobei man zu diesen beiden großen Künstlern sagen muß, daß auch andere Faktoren zu ihren Spielproblemen geführt haben. Doch sogar ein paar falsche Töne dieser ‚Lichtgestalten´ konnten nicht von ihrem einzigartigen Spiel ablenken, und man mochte sie gerne den richtigen Noten weniger begabter Hände vorziehen. Freiheit der Bewegung muß nicht notwendigerweise zu weniger exaktem Spiel führen: eine falsche Note hier oder dort sollte jedoch als Teil einer grundsätzlich riskanten Tätigkeit akzeptiert werden.
Als einer meiner angesehenen Kollegen kürzlich in einem Wettbewerb nach dem Auftritt eines Teilnehmers um sein Urteil gebeten wurde, antwortete er: "Ohne jegliche falsche Note, bereit für das Aufnahmestudio!" Obwohl dies von ihm als größtes Kompliment gemeint, offenbarte mir diese recht einseitige Aussage fast nichts über das Spiel des Kandidaten.
Noch ein anderer Grund für die physischen und neurologischen Probleme ist die Besessenheit heutiger Pianisten von lautem Spiel, obwohl sie selbst physisch unfähig sind, ein schönes forte zu produzieren. Letzteres kann man heutzutage nur bei wenigen ausgewählten Pianisten hören.
Diese störende Unfähigkeit, den angestrebten schönen Klang zu produzieren, resultiert aus einem Verlust des Inneren Hörens und der damit einhergehenden Fähigkeit sich selbst zuhören zu können. Sicher trägt uns lautes und lärmendes Zeitalter, die allgegenwärtige Beschallung und Berieselung mit Hintergrundmusik ein Übriges dazu bei, daß wir gegenüber Klang weniger sensibel geworden sind und in der Kunst des Zuhörens abgestumpft sind.
Als ich eine Aufführungen der Goldberg-Variationen auf einem Clavicord besuchte, hörten meine Kollegen und ich in den ersten Minuten kaum etwas von dem Spiel. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis wir uns auf den Klang eingestellt hatten und die Töne mit höchster Klarheit hören konnten. Diese Erfahrung bestärkte uns darin, daß es dringend nötig ist, die Kunst des feinsinnigen Zuhörens wieder zu erlernen. Gleichzeitig sollten wir unser Körperbewußtsein schärfen und mit Achtsamkeit dahin spüren, wo unnötige Verspannungen sind.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Lassen sie uns den ‚Computer´ in unserem Gehirn reprogrammieren, und die einfachsten und funktionellsten Bewegungen wieder ganz von vorne lernen. Sie sind so grundlegend für unser physisches und seelisches Wohlbefinden. Wer weiß? Vielleicht wird damit die Rückkehr zu einem erneuerten Sinn für Ästhetik in der Musik eingeläutet.

Clara Haskil mit der schweizer Sopranistin Maria Stader.
Clara Haskils überlanger, aber immer flexibler Daumen
wurde von Kollegen humorvoll als "der schnellste Daumen
im Westen" bezeichnet.
(Foto: Archiv Feuchtwanger)

1. Im englischen Original lautet der Titel dieses Aufsatzes "Pianists behaving badly" (Pianisten benehmen sich schlecht), eineAnspielung auf den Filmtitel "Man behaving badly".


Erstveröffentlichung auf Englisch in der Zeitschrift "Piano", Ausgabe November/Dezember 1998, S. 15; deutsche Übersetzung von Stefan Blido und Manfred Seewann.